„Ein Segen sollst du sein.“ (Gen 12,2)
Abraham war 75 Jahre alt – und doch mutet Gott ihm in seinem Alter noch zu, alles zu verlassen, was einem Menschen Heimat, Verwurzelung und Geborgenheit zu geben vermag: „Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus deinem Vaterhaus.“ (Gen 12,1) Abraham und seine Frau Sara waren kinderlos und damit abgeschnitten von der Zukunft. Und doch mutet ihnen Gott zu, fest daran zu glauben, dass sie ein Segen sein werden: „Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen.“ (Gen 12,2)
Mit dieser Zumutung Gottes beginnt die Geschichte des Judentums – und damit auch unsere christliche Geschichte. Der Koran erinnert ebenfalls an Abraham als Stammvater des Glaubens an den einen, lebendigen Gott. Das Urgeschehen des Aufbruchs eines alten Mannes und einer alten Frau allein auf Gottes Wort hin ist in die Wurzel aller drei großen monotheistischen Religionen eingeschrieben.
„Ein Segen sollst du sein.“ (Gen 12,2) Diese Verheißung geht als Auftrag mit. Zeigt sich Segen gerade dann, wenn die Situation menschlich gesehen aussichtslos erscheint? Offenbart sich der eine, lebendige Gott dann am deutlichsten, wenn alles Äußere zu resignieren nahelegt?
Vor 75 Jahren wurde Pater Alfred Delp von den Nazis hingerichtet. Sein „Verbrechen“ war, dass er mitten in der Katastrophe des Nationalsozialismus an ein anderes, in der Wurzel erneuertes Deutschland geglaubt hat. Und dass er sich mit anderen Gleichgesinnten schon auf den Weg gemacht hat, konkrete Pläne für eine solche grundlegende Erneuerung auszuarbeiten. Das konnte das menschenverachtende System nicht dulden. Und doch entwirft Delp mit einer unglaublichen inneren Freiheit und mit unbestechlicher geistiger Kraft noch mit gefesselten Händen die Vision einer besseren Gesellschaft. Mit gleicher Schärfe zeichnet er Grundlinien für die Erneuerung der Kirchen in unserem Land – und hält diese Reformorientierung für eine Schicksalsfrage im Hinblick auf deren Zukunft.
Mich haben immer in besonderer Weise die Zeilen berührt, die Pater Delp an eine Vertraute geschrieben hat, kurz nachdem das Todesurteil gegen ihn verkündet worden war:
„Und so will ich zum Schluss tun, was ich so oft tat mit meinen gefesselten Händen und was ich tun werde, immer lieber und mehr, solange ich noch atmen darf: segnen. Segnen Land und Volk … in seiner inneren Not und Qual; segnen die Kirche, dass die Quellen in ihr wieder reiner und heller fließen…; segnen die Menschen, denen ich Unrecht tat; segnen alle, die mir gut waren, oft zu gut. Behüt Euch Gott … Ich aber will hier ehrlich warten auf des Herrgotts Fügung und Führung. Ich werde auf ihn vertrauen, bis ich abgeholt werde. Ich werde mich bemühen, dass mich auch diese Lösung und Losung nicht klein und verzagt findet.“ (Gesammelte Schriften, IV, 112)
„Ein Segen sollst du sein.“ In diesem Jahr, liebe Schwestern und Brüder, erinnern wir uns an das Ende des II. Weltkrieges vor 75 Jahren. Es waren Menschen wie Pater Delp, die in ihrer ungebrochenen inneren Freiheit und menschlichen Größe für die Erneuerung Deutschlands und Europas ein Segen waren. Durch ihre mutigen Visionen und ihren allen Hass überwindenden Glauben gaben sie uns die Chance zum Neuanfang aus jahrhundertealten Feindschaften. Sie eröffneten uns den Raum zur Versöhnung und zur gemeinsamen Verantwortung für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden. Viele von ihnen haben die Früchte ihres Wirkens nicht sehen und schon gar nicht ernten können. Aber sie sind zum Segen geworden, weil andere durch ihr Vorbild bestärkt ihnen nachgefolgt sind. Mitten im Aussichtslosen haben sie eine andere Möglichkeit offen gehalten: die Wirklichkeit Gottes.
„Ein Segen sollst du sein.“ Das ist die Verheißung, die Gott uns, einem und einer jeden von uns, heute mitgibt. Und es ist zugleich sein Auftrag an uns. Das ist unsere Bestimmung und Sendung: „Ein Segen sollt ihr sein.“ Daran müssen wir uns messen lassen, die wir an den einen, lebendigen Gott glauben: ob wir ein Segen für die Menschen sind – für die Zukunft unseres Planeten, für die Einheit und den Frieden der globalen Menschheit. Das ist für mich der Maßstab für unser politisches und gesellschaftliches Leben heute, 75 Jahre nach dem Wahnsinn des Nazireiches und des Krieges. Wir haben uns, unser Handeln und unsere Welt danach zu messen, ob ein Segen darauf ruht, der Verantwortung, Nachhaltigkeit und menschenwürdige Zukunft hervorbringt. Pater Alfred Delp hatte schon früh erkannt: Auf dem Hass der Nazis konnte keine menschenwürdige Gesellschaft aufgebaut werden. Solch egomaner Größenwahnsinn, der die Würde Unzähliger mit Füßen trat, konnte nur Unfrieden und Zerstörung bringen. Es kann auch heute kein Segen darauf liegen, wenn Antisemitismus und Rassismus wieder erstarken, wenn nationalistische Parolen die Einheit der Menschen spalten, wenn unsere gemeinsame Verantwortung für die Zukunft unserer Erde und ihrer Ressourcen aus Macht- oder Profitgier ständig unterlaufen wird. Es kann kein Segen darauf liegen, wenn die Kultur unseres demokratischen Miteinanders vergiftet und versucht wird, unsere Demokratie um der eigenen Machtphantasie willen auszuhebeln. Kulturlosigkeit rächt sich immer, genauso wie Geschichtsvergessenheit – oder was noch schlimmer ist, Geschichtsverfälschung. Es kann kein Segen darauf ruhen, wenn einige unsere deutsche Geschichte umschreiben wollen und das entsetzliche Leid, die Millionen Verfolgten und Ermordeten, die Verwüstung der Menschenwürde verharmlosen. Es ist eine vergiftete Saat, die auf der Grundlage eines solchen Denkens und Handelns ausgesät wird.
„Ein Segen sollt ihr sein.“ Das ist für mich auch der Maßstab für die Erneuerung der Kirche in unserem Land und weltweit. Ich stehe mit ganzer Kraft und Überzeugung hinter dem eingeschlagenen Synodalen Weg. Denn er ist insbesondere aus der bitteren Erkenntnis hervorgegangen, dass so viele zum Dienst geweihte Amtsträger in der Kirche für so viele Menschen nicht zum Segen, sondern zum lebenslangen Trauma bis hin zur Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und Lebensperspektiven geworden sind. Und dass wir als Kirche Strukturen und eine Mentalität gefördert haben, die Betroffenen allzu häufig keine Chance ließen, sich gegen den physischen und seelischen Missbrauch zur Wehr zu setzen. Wir sind allzu oft nicht zum Segen geworden. „Die katholische Kirche in Deutschland macht sich auf einen Weg der Umkehr und Erneuerung.“ So lautet der Anfang der Satzung des Synodalen Weges. Die Verantwortung, die hier deutlich wird, darf nicht verharmlost werden. Uns sind die Augen geöffnet worden für einen langen Schatten, dem wir uns zu stellen haben. Dabei muss alles zur Sprache kommen können. Nicht zuletzt aus weltkirchlicher Mitverantwortung heraus haben wir unseren spezifischen Beitrag zur Erneuerung der Kirche mit Freimut zu geben, natürlich immer im Bewusstsein, keine Alleingänge starten zu wollen, sondern dem Ganzen zu dienen. Gerade hier gilt der Maßstab, ob etwas wirklich zum Segen gereicht. Und das heißt doch, dass es Frucht bringen kann, Zukunft eröffnet, Gemeinschaft stärkt. Auf Erstarrung wie auf verhärtetem Gegeneinander oder gar Spaltung ruht kein Segen.
„Ein Segen sollt ihr sein.“ Diese Verheißung und dieser Auftrag sollen uns im Bistum Speyer auf dem konkreten Weg zur Erneuerung als Leitschnur dienen. „Euch schickt der Himmel“ – unter diesem Motto hat der Bund der Deutschen Katholischen Jugend im letzten Jahr zum wiederholten Mal seine große Sozialaktion durchgeführt. 72 Stunden lang engagierten sich viele Tausende junger Menschen zusammen mit unzähligen erwachsenen Helfern an vielen Orten unseres Landes in sozialen und ökologischen Projekten. Dabei wurden sie für viele Menschen in ihrem konkreten Lebensumfeld zum Segen. Im November letzten Jahres wurde die katholische Jugend mit einem Bambi, Deutschlands wichtigstem Medienpreis, im Bereich „Unsere Zukunft“ ausgezeichnet. Ich meine, dass uns die jungen Menschen hier, wie auch im Einsatz für die Zukunft unserer Erde, vorbildlich vor Augen führen, was unsere Bestimmung und Sendung ist. „Euch schickt der Himmel“ – wenn Menschen das aus ganzem Herzen sagen können, dann bricht der Himmel wieder auf und gewinnen die Menschen den Mut, an die frohe Botschaft vom Reich Gottes zu glauben und ihr Leben danach auszurichten.
So ist Jesus in diese Welt gekommen. Er war ein Segen für die Menschen, die ihm begegneten. Er gab ihnen Würde und Heilung. „Sie staunten über alle Maßen und sagten: Er hat alles gut gemacht.“ (Mk 7,37) Hart ins Gericht ging er nur mit den Menschenverächtern mitsamt ihrer herabsetzenden Urteile über andere. Mit denen, die anderen Lasten aufschnürten, die sie selbst nie zu tragen bereit waren.
„Ein Segen sollt ihr sein“ – an diesem Maßstab wollen wir unsere Kirche bei uns neu ausrichten. Wie können wir mitten unter den Menschen so wirken, dass sie etwas vom Segen Gottes spüren? Wo sind solche Segensorte der Nähe Gottes? Sie können sich überall dort zeigen, wo gelebt und geliebt wird, wo Menschen sich begegnen, wo sie Kraft schöpfen, Ruhe finden, getröstet sind, weinen und lachen. Überall dort, wo Menschen etwas von Gottes gutem Plan für diese Welt und für sie persönlich erfahren.
Wir sind von Gott gesegnet, damit wir Segen für andere werden. Ich lade Sie ein, an unserem Visionsprozess mitzuwirken: Wie können wir wieder mehr zum Ort erfahrenen Segens für die Menschen unserer Zeit werden? Sie sind alle eingeladen, sich mit Ihren Ideen, Ihren Visionen, Ihren Talenten einzubringen. Sei es ganz konkret in Ihrer Pfarrei oder Gemeinde, Ihrem Verband oder wie auch immer vor Ort. Oder an den fünf zentralen Veranstaltungen an verschiedenen Orten in unserem Bistum, die wir heute in Kaiserlautern beginnen.
Möge diese Zeit der Umkehr und Erneuerung für uns zu einer Zeit des Segens werden, auch wenn uns Gott viel zumutet und manchem die Erneuerung aussichtlos erscheint. Aber vielleicht haben wir uns in der Perspektive verrannt. Gottes Segen vermag uns die Augen für die Möglichkeiten der Zukunft zu öffnen. So segne uns der lebendige Gott, damit wir neu seine Verheißung erkennen und seinen Auftrag annehmen: „Ein Segen sollst du sein.“
Ihr Bischof
Dr. Karl-Heinz Wiesemann